„Zeitschichten“. Bericht vom Kolloquium zur Überarbeitung des Internationalen Mahnmals in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
An dem offenen Online-Kolloquium zu einer Überarbeitung des Mahnmals nahmen Vertreter*innen der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte (SHGL) teil, von der auch die Initiative für die öffentliche Diskussion ausging, Mitarbeiter*innen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und anderer Gedenkstätten, Vertreter*innen der AIN sowie von weiteren Verbänden und aus wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kontexten Die Teilnehmer*innen unterzogen die Funktionalität der Anlage sowie Erwartungen an die geplante Erweiterung einer kritischen Betrachtung und diskutierten über Gestaltungsperspektiven.
Funktionen der Gedenkanlage
Oliver von Wrochem (SHGL) und Alexandra Köhring (SGHL) skizzierten zu Beginn die Funktionen der Gedenkanlage: Das Internationale Mahnmal sei eingebunden in einen größeren Gedenkbereich mit mehreren Gedenkorten, dem seit 1970 angelegten Gedenkhain, dem Haus des Gedenkens (1995) und dem Ort der Verbundenheit (2021). An den Orten fände vielfältiges Gedenken statt, das von kollektiven Praktiken bei offiziellen Gedenkfeiern, über das Gruppengedenkens von Überlebenden und Angehörigen zum anonymen individuellen Gedenken reiche.
Erinnerungskulturen und Dekolonisierung im östlichen und südöstlichen Europa
Im ersten Teil des Kolloquiums stellten Geschichtswissenschaftler*innen aus der Ukraine, Belarus, Slowenien und Russland Erinnerungskulturen und Denkmäler mit Fokus östliches und südöstliches Europa dar. Sie berichteten von den Nationalisierungs- und Dekolonisierungsprozessen in den Geschichtspolitiken und den Erinnerungslandschaften der Regionen.
Ihor Dvorkin (Nationale Technische Universität Kharkiv) stellte den Abbau des sowjetischen Narrativs des „Großen Vaterländischen Krieges“ in der Ukraine von 1991 bis heute dar sowie die Entwicklung zu einem kritischen und differenzierten Verständnis der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Die Zäsur der Großoffensive 2022 und 2023 sei einschneidend und mache gegenwärtig und auf unabsehbare Zeit ein gemeinsames Gedenken an einen Sieg der UdSSR unmöglich.
Svitlana Telukha (Nationale Technische Universität Kharkiv / GWZO Leipzig) berichtete von ihrer Arbeit für Oral-History-Archive, bei der sie Überschneidungen der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und des gegenwärtigen Krieges beobachte. Diese Veränderungen würden sich auch in der universitären Lehre manifestieren: Die Studierenden trügen die gegenwärtige Kriegssituation mit sich, was die historischen Diskussionen perspektiviere.
Gal Kirn (Universität Ljubljana) blickte auf die jugoslawische Erinnerungskultur zurück, in der die Partisanenbewegung als Widerstand gegen den Faschismus im Zentrum gestanden habe. Nach den Zerstörungen von Gedenkorten in den Bürgerkriegen und dem Wiederaufbau habe häufig ein unkritischer Umgang mit lokalem Faschismus und Kollaboration eingesetzt. Im national(istisch)en Narrativ einer Versöhnung als Zukunftspfad seien politische und historische Konflikte tendenziell eingeebnet worden. Dies habe einer Etablierung von ahistorischen ethnischen, kulturellen und religiösen Kategorien beim Opfergedenken Vorschub geleistet.
Iryna Kashtalian (Universität Bremen, ehemals Geschichtswerkstatt Minsk) stellte die politische Instrumentalisierung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in Belarus nach 2020 dar, die massiv von Russland und auch der orthodoxen Kirche beeinflusst sei: Folgen seinen Verschweigen „unbequemer Geschichten“, eine Marginalisierung des Holocaust und die starke Hierarchisierung der Opfer unter dem Narrative eines Genozids am belarusischen Volk.
Ekaterina Makhotina (Universität Göttingen) resümierte Praktiken der Dekommunisierung an sowjetischen Ehrenmalen in den Nachfolgerstaaten der Sowjetunion mit Schwerpunkt auf Litauen und der Ukraine. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine seien weitere Prozesse der Umdeutung, Demontage und Nationalisierung im Gange, außerdem eine Analogiesetzung 1941-1945 und 2014-2023. Die gegenwärtige Tendenz in den Erinnerungskulturen bezeichnete sie als „Victim-Turn“, der zu einer Art Privatisierung der Gedenkpraktiken wie zum Beispiel im Reenactment führe.
Die Berichte zeigten eindringlich die geschichtspolitischen Funktionalisierungen des Zweiten Weltkrieges und des NS als „ideologische Kriege“ in der gegenwärtigen politischen Situation („heat of ideological war in the current political situation“), die extreme Divergenzen in der Kategorisierung der Opfer bedinge. Die massiven Auswirkungen der gegenwärtig erlebten Kriegssituation auf die Zivilgesellschaft werden zu integralen Faktoren der Erinnerungskulturen.
Perspektiven für eine Überarbeitung: Historizität / Materialität / Formensprache und digitales Erinnern / Ecommemoration / hybride Formen
Stefanie Endlich (freie Wissenschaftlerin, Berlin) stellte dar, wie große KZ-Gedenkstätten in ihren Gedenkbereichen mit dem Thema Nationen in Vergangenheit und Gegenwart umgingen: Typisch sei das Entstehen von mehrteiligen Anlagen, die vielfach ergänzt werden würde. Gleichzeitig suchten die Gedenkstätten weiter nach Konzepten, die das gemeinsame Gedenken fördern könnten.
Iris Groschek (SHGL) erläuterte die digitalen Erweiterungsmöglichkeiten von Gedenkorten – als Ergänzung, Replacement, als eigenständiges Format sowie als interaktives Format. Dafür ständen mittlerweile eine Vielzahl von audiovisuellen und technisch-medialen Möglichkeiten (BYOD, App, Beacons, ausleihbare Geräte, Digitalpanel, AR/VR/XR u.a.) zur Verfügung. Informative Formate und Storytelling-Formate ließen sich mit veränderbaren Inhalten (durch Gedenkstätte, aber auch durch Nutzer) gestalten. Grundlegende Frage sei die Adressierung des Formats.
Die Workshop-Diskussionen der Teilnehmer*innen sowie die Abschlussdiskussion mit Habbo Knoch und Kirsten Heinsohn als Vertreter*innen der Fachkommission der SHGL, der Präsidentin der AIN, Martine Letterie, sowie Cornelia Siebeck und Oliver von Wrochem als Vertreter*innen der SHGL zeigte deutlich einen Veränderungs- und Kommentierungsbedarf auf und ergaben mehrere Themencluster sowie Fragen und Ansätze für eine Gestaltung:
- Die Situation stelle sich heute fundamental anders als in den 1960ern dar, als Gedenken und staatlicher (National)Bewusstseinspolitik zumindest auf offizieller Eben nahe beieinander lagen. Die heutige Situation charakterisiere eine Dissonanz von Opfererinnerung und Opferidentifikation. Gefühle der Zugehörigkeit, persönliche Erzählungen, etablierte Praktiken nationalen Gedenkens und Kritiken an der Idee monolithischer Gemeinschaften bilden starke Reibungsflächen.
- Inakzeptabel seien der Weitertransport eines Hegemonialanspruchs Russlands und der Homogenisierung des Vielvölkerstaates Sowjetunion sowie andere Praktiken, die Fremdzuschreibungen fortführen (Stichwort der „weißen Autorenschaft“).
- Konsensual war der Wunsch nach Repräsentanz der Vielfalt der Gruppen der Inhaftierten, des Widerstands und des antifaschistischen Kampfs (Stichwort der „agency“), der Internationalität, Diversität, Heterogenität und Individualität der KZ-Häftlinge.
- Notwendig sei die Historisierung der Anlage von 1965 mit einer angemessenen Information und Orientierung vor Ort, zum Beispiel mit einer Infotafel, mit dem Verweis auf andere Gedenkorte der Gedenkstätte.
- Der kommemorative Charakter der Anlage solle gewahrt werden (Stichwort „Auftrag Erinnern und Mahnen“, ohne ein Narrativ der Versöhnung).
- Betont wurden Vorteile eines kuratierbaren digitalen Moduls. Die Gewichtung der Funktionen Information, Partizipation/Interaktion und Kritik am nationalen kollektiven Gedächtnis blieb offen.
- Unterstrichen wurden der Wunsch nach einem modernen Design mit künstlerischen Ansätzen, das die Anlage nicht überfrachte und Besucher*innen nicht überfordere, mit neuen Medien „überraschend“ und innovativ wirke und die Steine „verlebendige“ (zum Beispiel mittels Animation, Graphic Stories).
- An konkreten Gestaltungsvorschlägen wurden genannt:
- Länderplatten für alle bekannten Nationalitäten als besonderes historisches Merkmal des KZ Neuengamme,
- Anlage eines Bords entlang des Weges für individuelle Gedenkzeichen und Ausschmückung von Seiten der KZ-Gedenkstätte,
- Anlage von einzelnen Biographien/Porträts als (digitale) Erinnerungstafeln.
- Ein weiterer Vorschlag war, den Ort zu verlassen, um an einer anderen Stelle gemeinschaftlich zu gedenken und um damit neue Weise von inklusivem Gedenken zu demonstrieren.
Die Ergebnisse der Diskussion werden in einen konkreten Vorschlag zur Umgestaltung eingehen, den die SHGL in Abstimmung mit der AIN mit dem Denkmalschutz sowie im bilateralen Austausch mit Interessengruppen entwickelt.
Zwei Äußerungen können abschließend als Fazit der Veranstaltung gelten:
„Solange das internationale Mahnmal zum Gedenken benutzt wird, muss es ergänzt werden“
„Je länger der Krieg dauert, desto stärker wird die Erinnerungskultur belastet“
Flyer World War II memory politics in Ukraine
Bericht: Alexandra Köhring