Wir denken an Natalia Fjodorowna Radchenko
Natalia Fjodorowna Radchenko wurde am 2. Dezember 1924 in der Stadt Nikolajew (heute Mykolajiw) in der heutigen Ukraine geboren. Zu Beginn des Krieges lebte die Familie in Lemberg (heute Lwiw). Natalias Vater ging sofort zum Militär und kam nicht wieder zurück. Natalia wurde aufs Land geschickt. Einige Zeit irrte sie von Ort zu Ort und kam schließlich zurück nach Nikolajew zu ihrer Großmutter und Tante.
Nikolajew war bereits 1941 von den Deutschen besetzt. Natalia fand Arbeit und konnte eine Weile dem Transport nach Deutschland entgehen. 1943 geriet sie in eine Razzia und wurde zusammen mit anderen jungen Frauen in Viehwaggons nach Deutschland verschleppt und kam zunächst nach Wuppertal. Natalia und zwei andere Mädchen schafften es, aus dem Lager zu fliehen, kamen bis nach Rheinhausen, wurden aber beim Umsteigen in einen anderen Zug festgenommen.
So kam sie in ein Straflager bei den Krupp-Werken in Essen und musste im Eisenwerk auf der ‚Walzstraße‘ arbeiten. Das war eine schwere Arbeit, die Ernährung war schlecht und mit Unterstützung eines deutschen Kollegen bereitete sie zusammen mit einer Freundin erneut ihre Flucht vor. Aber die beiden wurden bereits bei Köln festgenommen und diesmal in das KZ Ravensbrück verbracht. Von Ravensbrück aus wurde Natalia Radchenko nach Hamburg in das KZ-Außenlager Wandsbek überführt und leistete dort Zwangsarbeit in den Drägerwerken bei der Produktion der Gasmasken.
Nach ihrer Befreiung im April 1945 blieb sie noch ein paar Wochen in Hamburg und wurde zusammen mit anderen sowjetischen Frauen an die sowjetische Armee übergeben. Sie kam in ein so genanntes Filtrationslager nach Neubrandenburg. Nach der Überprüfung ihrer persönlichen Daten wurde ihr eine Arbeit bei der sowjetischen Armee angeboten und sie arbeitete in einer Aufklärungseinheit, die die Potsdamer Konferenz beobachtete.
1946 erfuhr sie, dass ihre Mutter lebte, sie ging zu ihr nach Odessa, später zogen sie zusammen nach Lwiw. Dort studierte sie an der polytechnischen Hochschule Geologie. Sie heiratete und bekam im März 1949 einen Sohn. Natalia arbeitete als Geophysikerin in verschiedenen Teilen der Sowjetunion, u.a. in Transbeikalien, Sibirien und Zentralasien. In den letzten Jahren lebte sie mit ihrem Sohn in Minsk/Belarus.
Wir erinnern uns gern an diese zierliche Frau, die in vielen Gesprächen mit Schüler*innen von ihrem Schicksal berichtete. Wir erinnern uns an sie als eine unglaublich starke und widerstandsfähige Person. Ihre dunklen Augen konnten innig lachen, einen sehr streng prüfend durchbohren, aber auch sehr traurig sein. Im Mai 2019 war sie mit ihrem Sohn zum letzten Mal in Hamburg und hat an den Gedenkfeierlichkeiten der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zur Erinnerung an die Befreiung und an das Kriegsende teilgenommen. Diese Reisen nach Hamburg, nach Hamburg-Wandsbek, nach Neustadt in Holstein zur Erinnerung an die Bombardierung der Schiffe in der Neustädter Bucht, waren ihr sehr wichtig. Auch wenn es in den letzten Jahren zu merken war, dass ihr das Erinnern immer schwerer fiel, wollte sie die Reisen und die Gespräche mit jungen Menschen nicht aufgeben.