Wir denken an Lidiia Turovskaja (1929-2024)
Lidiia Turovskaja wurde am 5. Januar 1929 in Warschau geboren und wuchs in einer tiefgläubigen katholischen Familie auf. Ihr Vater verstarb 1934, und sie wurde zusammen mit ihrer Schwester von ihrer Mutter großgezogen. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs veränderte ihr Leben. Die Familie versuchte, Zuflucht außerhalb Warschaus zu finden, doch deutsche Truppen drangen in das Dorf ein, in dem sie sich versteckt hielten. Lidiia erinnerte sich lebhaft an die Gräueltaten, die sie miterleben musste.
Mit der Besetzung Warschaus verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Familie Zienkiewicz dramatisch. Lidiia schloss sich einer Widerstandsbewegung an und wurde Teil der "Szare Szeregi" (Graue Reihen), einer polnischen Pfadfinderorganisation, die während des Warschauer Aufstands von 1944 aktiv gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Als Kurierin riskierte sie ihr Leben, um Soldaten Informationen und Wasser zu bringen, während sie durch die Straßen des zerstörten Warschaus lief.
Nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand wurden die Schwestern in ein Sammellager nach Pruszków gebracht, wo sie ihre Mutter verloren. Während der Selektion wurde ihre Mutter in die Gruppe der nicht arbeitsfähigen Häftlinge geschickt und rief den Schwestern ein letztes Mal zu: „Haltet immer zusammen und trennt euch niemals!“ Diese Worte begleiteten Lidiia ihr Leben lang, und sie und ihre Schwester blieben untrennbar verbunden.
Von Pruszków aus wurden die Schwestern in das KZ Auschwitz überstellt, wo sie unter den unmenschlichen Bedingungen sehr litten. Im Dezember 1944, als die Front näher rückte, wurden die Schwestern dann in ein Außenlager des KZ Neuengamme deportiert. Lidiia arbeitete dort nicht mehr, sie war zu schwach und war zusammen mit ihrer Schwester im Krankenrevier untergebracht. Gegen Ende des Jahres 1944 wurde die Aufsicht im Lager lockerer und polnische Krankenschwestern konnten ihr und anderen Häftlingen heimlich helfen. Mit deren Hilfe und dank ihrer Behandlung konnte sie überleben.
Am 3. Mai 1945 wurden die beiden Schwestern von der britischen Armee befreit.
Nach dem Krieg war es Lidiia, wie vielen anderen Überlebenden, nicht möglich, in ihre Heimat zurückzukehren. Stattdessen begann sie in der Sowjetunion ein neues Leben. Der Verlust ihrer Identität war eine bittere Folge des Krieges, ermöglichte ihr jedoch das Überleben in der sowjetischen Gesellschaft. Lidiia sprach fließend Polnisch, Deutsch und später auch Russisch, was ihr half, sich in den verschiedenen Phasen ihres Lebens an die jeweiligen Situationen anzupassen.
2011 hatte sie zusammen mit ihrer Schwester Kseniia Olkhova die KZ-Gedenkstätte Neuengamme besucht und war der Gedenkstätte seitdem immer verbunden. In Interviews für die Gedenkstätte hat sie von ihrem Schicksal berichtet und so versucht, die Kriegserinnerungen zu verarbeiten.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung hatten die Schwestern der Gedenkstätte eine Video-Grußbotschaft übermittelt, da im Zuge der Corona-Pandemie ein Treffen in der Gedenkstätte nicht möglich war: https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/75befreiung/
Trotz aller erlebten Gräuel und der erlittenen Leiden war Lidiia Turovskaja nicht verbittert. Sie hatte einen starken Überlebenswillen und besaß eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Wir erinnern uns an ihre Freundlichkeit, ihre Zugewandtheit und auch an ihren trockenen Humor. Ein Herzenswunsch von ihr war Frieden und Freiheit für alle Menschen.