Leerstellen – Gegenwartsbezüge – Verflechtungen
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und die Zentralstelle zur Förderung von Gedenkstättenfahrten der Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH haben vom 12.–14. September 2024 die Tagung „Vielfältige Erinnerungskultur in der Praxis“ veranstaltet. Die Teilnehmenden der Tagung tauschten sich darüber aus, wie Gedenkstättenfahrten vielfältiger und inklusiver gestaltet werden können. Dies ist dadurch möglich, dass die Geschichten bisher weitgehend verdrängter Verfolgtengruppen berücksichtigt werden. Außerdem ist es wichtig, Menschen mit Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung stärker in die Entwicklung von Bildungsangeboten einzubeziehen. Und Fahrten zu Gedenkstätten sollten so geplant werden, dass ein möglichst breiter Kreis an Personen daran teilnehmen kann. Hierfür sollen die Barrieren für eine Teilnahme so niedrig wie möglich sein. In Form von Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Workshops und einem World Café tauschten sich über 80 Personen an drei Tagen zu diesen Fragen aus.
Am ersten Tag konnten diejenigen, die die KZ-Gedenkstätte Neuengamme noch nicht kannten oder ihr Wissen darüber vertiefen wollten, vor Tagungsbeginn an verschiedenen Themenrundgängen teilnehmen. Einen allgemeinen Rundgang in Einfacher Sprache über „Das KZ Neuengamme: Geschichte und Nachgeschichte“ führte Jon Kornell durch. Marie Stahlfeld und Gisela Ewe boten einen Rundgang zu „Schwarzen Gefangene im KZ Neuengamme“ an. Marco Kühnert berichtete Interessierten über „Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Neuengamme“.
Offiziell begrüßten Dr. Susann Lewerenz (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), Dr. Astrid Sahm (IBB gGmbH) und Sera Choi (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) die Teilnehmenden zur Tagung. Da Cornelia Chmiel (Freie Universität Berlin) krankheitsbedingt leider ausfiel, trug Susanne Becker (IBB gGmbH) zusammen mit Dr. Susann Lewerenz ihren Einführungsvortrag zu „Geschichten im Wandel – Gedenkstättenarbeit als Beitrag zu einer inklusiveren Erinnerungskultur in einer pluralen Gesellschaft?“ vor. Der Vortrag setzte direkt am Kern des Themas an: Wer wie über Geschichte spricht und wem dabei zugehört wird, hängt immer auch damit zusammen, wer welche Macht in der Gesellschaft besitzt. Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft. In der aktuellen Erinnerungs- und Bildungsarbeit von Gedenkstätten wird diese aber in der Regel so nicht abgebildet. Auch in dem anschließenden Podiumsgespräch mit Dr. Mehmet Daimagüler (Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland), Jürgen Dusel (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen) und Ines Eichmüller (Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus e. V.) wiesen die drei auf etliche Leerstellen hin. So sind die wenigsten Gedenkstätten und ihre Angebote barrierefrei zugänglich, verschiedene Verfolgtengruppen werden bis heute nur wenig beachtet (zum Beispiel die der sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Sicherungsverwahrten“) und Bezüge zu bis heute bestehender Diskriminierung werden selten hergestellt. Der Inhalt des ersten Tages wurde in Leichte Sprache übersetzt.
Die genannten Leerstellen und Herausforderungen waren ein wichtiger Einstieg ins Thema und begleiteten die Teilnehmenden während der gesamten Tagung. Am zweiten Tag tauschten die Teilnehmenden sich dann zu verschiedenen Themen in acht unterschiedlichen Workshops aus:
- Entrechtung und Krankenmord an Kindern, Jugendlichen und Menschen mit ausländischer Herkunft als Gegenstand inklusiver und internationaler Geschichtsvermittlung
Dr. Carola Rudnick („Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg) - Queere Menschen und ihre Verfolgung im Nationalsozialismus
Ansgar Tonya Karnatz und Jona Diwiak (beide KZ-Gedenkstätte Neuengamme) - Perspektiven öffnen – Geschichten teilen: Der Vernichtungskrieg im östlichen Europa aus Sicht von Menschen mit osteuropäischer Migrations- bzw. Familiengeschichte
Natalia Wollny (KZ-Gedenkstätte Neuengamme und „Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg) und Jan Dohrmann (Gedenkstätte Lager Sandbostel) - Jüdische Verfolgungserfahrungen neu gedacht – Leerstellen, Gegenwartsbezüge, Verflechtungsgeschichten
Furkan Yüksel (Bildungsstätte Anne Frank) - Inklusive Gedenkstättenfahrten – Workshop mit Projektbeteiligten des EU-Projekts REM-inclusive
Linus Bade, Hannah Kiesbye, Annika Hirsekorn; Constanze Stoll (IBB gGmbH) - Stigma „Asozial“
Marie Stahlfeld und Wiebke Elias (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) - Frauen als Verfolgte und Täterinnen
Ulrike Jensen (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) und Karin Heddinga (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) - Die Verfolgung von Sinti* und Roma* als Thema von Gedenkstättenbesuchen
Sevin Begovic (Bildungsforum gegen Antiziganismus), Arnold Weiß, Moritz Terfloth (Landesverein der Sinti in Hamburg e.V.)
In der darauffolgenden Fishbowl-Runde berichteten Teilnehmende aus den verschiedenen Workshops. Zudem stellten Laura Lopez Mras (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg) und Oliver Gaida (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) das Projekt „Die Verleugneten“ vor. Die kurz vor Fertigstellung stehende Ausstellung erinnert an Menschen, die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Sie wird ab dem 10. Oktober 2024 in Berlin zu sehen sein. Damit sollte der Blick nicht nur auf bereits bestehende Bildungsangebote gerichtet werden, sondern auch auf die Leerstelle der Erinnerung an die als „Berufsverbrecher“ Verfolgten. In den verschiedenen Workshops konnten die Teilnehmenden sich mit unterschiedlichen Verfolgtengruppen, partizipativen Zugängen sowie mit verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen auseinandersetzen. An dieser Stelle wurde von verschiedenen Teilnehmenden der Wunsch nach Einfacher Sprache und verständlichem Material stark gemacht.
Am dritten Tag war der Blick auf die Praxis gerichtet. Im Centro Sociale, einem selbstverwalteten Ort im Hamburger Karoviertel, stellten vier verschiedene Projekte ihre Arbeit vor:
- Projekt „Vergessene Verfolgte“
Dr. Kathrin Zöller (Geschichtsort Villa ten Hompel - Memorial & Museum) - Projekt „Von einem Ort des Jubels zu einem Ort des Unrechts“
Gero Kopp (Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht Osnabrück) - Projekt „Verflechtungen. Koloniales und rassistisches Denken und Handeln im Nationalsozialismus“
Dr. Susann Lewerenz (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) - Projekt „Gedenkstättenfahrten an Orte von Deportationen von Jüdinnen*Juden und Sinti*ze und Rom*nja aus Norddeutschland“, Bericht einer inklusiven Fahrt in 2019
Johanna Schmied (denk.mal Hannoverscher Bahnhof)
Je nachdem, was Menschen interessiert, finden sie unterschiedliche Zugänge, um sich mit dem Thema Nationalsozialismus zu beschäftigen. Bei den vier Projekten ging es um Zugänge wie die Geschichte des Sportplatzes vor Ort, Zielorte von Deportationen, Biografien von Menschen aus verdrängten Verfolgtengruppen oder Verbindungen zwischen kolonialem und rassistischem Denken und Handeln im Nationalsozialismus. Auch die Methoden können sehr unterschiedlich sein: Comics zeichnen, historische Orte fotografieren, in der Nachbarschaft recherchieren, Biografien erkunden und unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven in den Fokus rücken. Der Umgang mit Täterquellen und Tätersprache ist hierbei herausfordernd. Wichtig ist auch, die eigene Machtposition als verantwortliche Person in der Bildungsarbeit zu reflektieren.
Im Abschlussbericht von Paula Scholz (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) und Zoe Stupp (IBB gGmbH) wurde deutlich, dass Leerstellen in der Erinnerungsarbeit immer auch mit unserer Gegenwart und aktueller Diskriminierung zu tun haben. Um eine vielfältige Erinnerungskultur in die Praxis umzusetzen ist es wichtig, Nachkomm*innen von Verfolgten sowie Selbstorganisationen von Betroffenen stärker einzubeziehen. Dabei braucht es Mut, um Formate und Strukturen anders zu denken. Vor allem aber braucht es dazu Zeit und Geld. Sera Choi bekräftigte, wie wichtig eine Finanzierung von Gedenkstättenfahrten ist. Aliaksandr Dalhouski (Geschichtswerkstatt Minsk) berichtete zum Abschluss noch von digitalen Angeboten der Geschichtswerkstatt Minsk, darunter der deutsch-belarussischen Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyi Trsotenez. Geschichte und Erinnerung“. Nach drei Tagen intensivem Austausch bleibt der Wunsch, sich auch in Zukunft weiter und mehr auf eine solch vielfältige Weise zu vernetzen.