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10.10.2025

Im Blickfeld: Die Deportationen vom Hannoverschen Bahnhof aus der Perspektive der Oberhafen-Kantine und der Nachbarschaft

Drei Personen stehen vor dem Eingang eines alten Gebäudes.
Stefan Wilbricht (KZ-Gedenkstätte Moringen), Dr. Kristina Vagt (denk.mal Hannoverscher Bahnhof) und Sebastian Libbert (Oberhafen-Kantine) vor der Oberhafen-Kantine.

Der 100-jährige Geburtstag der Oberhafen-Kantine war Anlass für eine öffentliche Veranstaltung, um zu fragen: Was haben die damalige Wirtsfamilie und ihre Gäste und die Nachbarschaft von den Deportationen in den Jahren 1940 bis 1945 vom Hannoverschen Bahnhof mitbekommen?

Fußläufig zum Gedenkort denk.mal Hannoverschen Bahnhof befindet sich die Oberhafen-Kantine, die stets Anlaufstelle für Beschäftigte im Oberhafen war. Teile des Bahnhofs und des Betriebs rundherum waren von dort aus sicht- und hörbar. Der 100-jährige Geburtstag der „Kaffeeklappe“ war Anlass für den Geschäftsführer Sebastian Libbert, sich Fragen zu stellen: Was haben die damalige Wirtsfamilie und ihre Gäste und die Nachbarschaft von den Deportationen von Jüdinnen und Juden, Sinti*ze und Rom*nja in den Jahren 1940 bis 1945 vom Hannoverschen Bahnhof mitbekommen? Gingen hier während der Deportationen womöglich auch Täter*innen ein und aus?

Er war mit der Veranstaltungsidee an die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte herangetreten. Gemeinsam mit etwa 20 Gästen sprachen Sebastian Libbert (Oberhafen-Kantine), Dr. Kristina Vagt (denk.mal Hannoverscher Bahnhof) und Stefan Wilbricht (KZ-Gedenkstätte Moringen) über die Geschichte des Ortes. Anhand von Quellenmaterial zeichnete Dr. Kristina Vagt die Entstehungs- und Nutzungsgeschichte vor und während der Zeit des Nationalsozialismus nach. So wurden in der ersten Jahreshälfte 1937 drei Gefangenentransporte von der Strafanstalt Fuhlsbüttel über den Hannoverschen Bahnhof in die Emslandlager abgewickelt. Ebenso wurden Jüdinnen und Juden und Sinti*ze und Rom*nja im Rahmen der sogenannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ im Juni 1938 und jüdische Männer in der Folge des Novemberpogroms 1938 über den Bahnhof jeweils ins KZ Sachsenhausen verschleppt. 

Stefan Wilbricht griff ein Zitat der Wirtin Anita Haendel auf, in dem sie über den Trubel auf dem Bahnhofsvorplatz spricht, den sie aus den Fenstern der Oberhafen-Kantine beobachten konnte. Wilbricht machte im Vortrag deutlich, dass sich während des Zweiten Weltkrieges der Ort, und was dort zu beobachten war, massiv veränderte. Neben den Deportationen wurden der Hannoversche Bahnhof und der Hafen auch ein Ort der Zwangsarbeit. Die Sichtbarkeit der Zwangsarbeiter*innen im Stadt- und Straßenbild ist auf mehreren Fotografien dokumentiert. Die Wirtin Anita Haendel erzählte später, manche der Zwangsarbeiter hätten sich in der Oberhafen-Kantine Bier gekauft.

Für die Täter*innen bedeuteten die Deportationen von Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslager und Ghettos einen profan erscheinenden Verwaltungsablauf: es gab feste Strategien und Abläufe, die die Kontakte zwischen den beteiligten Hamburger Behörden und den Deportationsablauf bestimmten. So zeigen beispielsweise die Anmeldungen von Kolonnen-Transporten, wie die Menschen von den Sammelorten der Deportationen durch die Stadt zum Hannoverschen Bahnhof gebracht wurden. Stefan Wilbricht sagte über den Bahnhof: „Das ist ein Ort, der ein bisschen am Rand liegt, aber zentral ist für logistische Aufgaben.“ Die großen Gleisanlagen, die Eisenbahner*innen, die dort arbeiteten und die Eingebundenheit an den städtischen Raum ermöglichten den Täter*innen, die Deportationen abzuwickeln, und die Züge bereitzustellen. In den historischen Quellen wird beschrieben, dass die Betroffenen beispielsweise um 5 Uhr morgens von den Sammelorten zum Hannoverschen Bahnhof gebracht und in die Züge gezwungen wurden. Gegen 10:10 Uhr setzte sich der Deportationszug in Bewegung. Für den „regulären“ Betrieb auf dem Güterbahnhof bedeuteten die Deportationen große Einschnitte und Verzögerungen. Es ist möglich, dass die Bahnbeamten, Hafenarbeiter*innen und Verlader*innen bei einem Kaffee in der Oberhafenkantine über diese Veränderung in ihren Arbeitsabläufen sprachen. Außerdem begannen die Deportationen nicht erst am Hannoverschen Bahnhof, sondern umfassten Situationen wie den Erhalt des Deportationsbefehls per Post, die Abgabe des Wohnungsschlüssels bei der Polizei und den Weg mit dem reglementierten Gepäck zu den Sammelorten.

Man muss sich fragen, was die Arbeiter*innen, Händler*innen und Beschäftigten, die sich in der Oberhafen-Kantine trafen, in ihren Nachbarschaften mitbekamen und als Gesprächsthema mit in die Kantine brachten. Damals wie heute war der Gastronomiebetrieb ein Ort der Begegnung. Zwar sagte die Betreiber*innen-Familie später, man habe Angehörigen des NS-Regimes nicht bewirten wollen. Einer der Söhne der Familie war aber selbst bei der Kriminalpolizei und gehörte damit zu einer der Hamburger Behörden, die an den Deportationen beteiligt waren. Das Nachdenken über die historischen Gleichzeitigkeiten – regulärer Schankbetrieb in Kaffeeklappen und Gastronomiebetrieben, während gleich nebenan Menschen verschleppt wurden – eröffnete eine Diskussion über Haltung und Zivilcourage. Jede*r einzelne hat die Verantwortung, in der eigenen Umgebung Unrecht als solches zu benennen und dagegen aufzustehen, sagte eine Zuhörerin.

Bild aus der Vogelperspektive vom Hannoverschen Bahnhof und der Umgebung.
Der Hannoversche Bahnhof und Umgebung aus Vogelperspektive.