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01.12.2021

Bericht zur Online-Tagung „Digital Memory – Neue Perspektiven für Gedenkstätten für NS-Verfolgte“

Erinnerung schaffen in der Gedenkstätte

Am 25. und 26. November 2021 veranstaltete die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte die Online-Tagung „Digital Memory – Neue Perspektiven für Gedenkstätten für NS-Verfolgte“. In insgesamt drei Panels diskutierten die Teilnehmenden die Chancen und Herausforderungen des digitalen Transformationsprozesses und stellten Fragen, Ansätze und Konzepte für die Gedenkstättenarbeit im 21. Jahrhundert vor.

Die Tagung brachte Expert*innen aus Theorie und Praxis aus unterschiedlichen Einrichtungen und Disziplinen zusammen und leistete damit einen Beitrag zur aktiven Gestaltung der neuen Hybridität, die aus dem Zusammenwirken von Gedenkstätten an historischen Tatorten des Nationalsozialismus und der digitalen Welt entsteht.

Die Impulse des von Prof. Dr. Habbo Knoch (Universität Köln) moderierten ersten Panels „Herausforderungen von außen“ bezogen sich auf verschiedene Rahmenbedingungen des digitalen Transformationsprozesses. Jun.-Prof. Dr. Christian Bunnenberg (Ruhr-Universität Bochum) erläuterte die Chancen und Herausforderungen im Zusammenspiel von digitalen Medien und historischem Lernen aus geschichtsdidaktischer Perspektive heraus, indem er insbesondere die Veränderungen im Lernverhalten analysierte und ausführte, dass historisches Lernen ohne einen kritischen Umgang mit medialen Objektivationen von Geschichte nicht denkbar sei. Dr. Steffi de Jong und Felix Zimmermann (beide Universität Köln) diskutierten Repräsentationen des Holocausts in VR- und Computerspielwelten. Während de Jong ausgehend von dem der Virtual Reality innewohnenden Anspruch, ein „Sich-Einfühlen“ in die historischen Geschehnisse zu ermöglichen, vor allem den dahinterstehenden Empathie-Begriff einer kritischen Reflexion unterzog, fragte Zimmermann, inwiefern „Einfühlen“ und „Distanzieren“ gleichzeitig möglich seien. Kann die Spielwelt tatsächlich mehr sein als reiner Erlebnis- und Handlungsraum?  In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere der Unterschied zwischen Geschichts- und Vergangenheitserfahrung hervorgehoben. Als zentral schälte sich die Frage heraus, inwiefern die digitale Transformation herkömmliche Begriffe wie Vergangenheit, Geschichte und Empathie auflöse und zu einem Umdenken zwinge. Es sei Aufgabe der Gedenkstätten, sich der möglichen Missverständnisse und Gefahren bewusst zu werden und den Prozess aktiv mitzugestalten.

Legte das erste Panel die theoretischen Grundlagen, stellten die Teilnehmenden des von Stefan Willbricht (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) moderierten zweiten Panels „Sammeln, Forschen, Ausstellen“ konkrete Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Gedenkstätten vor. Dr. Henning Borggräfe (Arolsen Archives) gab einen Einblick in die Crowdsourcing-Kampagne #everynamecounts, in dem Nutzer*innen über die Plattform Zooniverse historische Dokumente ehemaliger KZ-Häftlinge erschließen. Gerade der partizipative Charakter sei eine große Stärke des Projekts, das mit fast 22.000 registrierten Beteiligten und 4,5 Millionen bearbeiteten Dokumenten einen enormen Zuspruch erfahren habe. Dr. Christiane Heß (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) stellte die mittlerweile 160 Objekte umfassende interdisziplinäre Datenbank für KZ-Artefakte der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück vor, die als Open Access einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Zentraler Ansatz der Datenbank sei es, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Artefakte herauszuarbeiten und recherchierbar zu machen. Martina Staats (Gedenkstätte JVA Wolfenbüttel) präsentierte die digitalen und interaktiven Elemente in der aktuellen Dauerausstellung in der Gedenkstätte JVA Wolfenbüttel. Grundsätzlich hätten sich hauptsächlich diese Elemente als besuchsführend erwiesen. Ausgangslage für das von Dr. Karola Fings (Universität Heidelberg) vorgestellte Projekt „Voices of the Victims“ war die Problemstellung, dass sich die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung der Sinti*Sintize und Roma*Romnja bisher nahezu ausschließlich aus der Täterperspektive geschildert werde. Im Zentrum des insbesondere von Mitgliedern der Community initiierten und durchgeführten Projektes stehen daher die Selbstrepräsentation der Betroffenen. In der anschließenden Diskussion wurden Probleme der Zusammenarbeit, Ressourcen und gemeinsame Standards diskutiert: Wie kann eine dauerhafte Online-Präsenz gewährleistet werden? Wie können Daten(banken) verschiedener Institutionen miteinander verbunden werden? Welche Daten eignen sich für eine online-Präsentation?

Der zweite Tagungstag begann mit durch Dr. Iris Groschek (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) moderierten Impulsen zum Thema „Social Media und Bildungsangebote“. Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann (The Hebrew University of Jerusalem) diskutierte den Beitrag von sozialen Medien für ein partizipatives Gedächtnis vor allem unter Einbeziehung der Plattform TikTok. Er sieht Social-Media-Plattformen als wichtige Elemente im Umgang mit der zukünftigen Erinnerung an den Holocaust. Die Frage sei, wie gut Gedenkstätten darin sind, ihre analogen Inhalte in die Logik der sozialen Medien zu übersetzen und somit einen virtuellen Erinnerungsraum als eigenen Part in der diversen und kommunikativen Gedächtnis- und Erinnerungswelt zu schaffen und Diskurse anzuregen. Tessa Bouwman (Gedenkstätte Bergen-Belsen) stellte die Instagram-Führungen der Gedenkstätte Bergen-Belsen vor, die nach der Corona-bedingten Schließung der Gedenkstätte im Frühjahr 2020 starteten und schon mit einfachen Mitteln hohe Reichweiten generieren konnte. Der empirische Bildungsforscher Dr. Martin Rehm (Pädagogische Hochschule Weingarten) befasst sich auf methodologischer Ebene mit der Auswertung von Social-Media-Daten für Digital Holocaust Memory und konnte so Hinweise geben, wo Lücken bei der Schwerpunktsetzung der Institutionen auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zu finden sind. Pia Schlechter (Universität Oldenburg) diskutierte die Verhandlung der (Un-)Angemessenheit von Selfies. Ungleichheitskategorien hätten dabei einen Einfluss auf die Bewertung (z.B. homosexuelle vs. heterosexuelle, junge vs. ältere, deutsche vs. nicht-deutsche Gedenkstättenbesucher*innen). Die anschließende angeregte Diskussion griff Impulse der Panelist*innen auf, indem u.a. über die Verantwortung der Gedenkstätten, bestimmte Themen sichtbarer zu machen, gesprochen wurde. Digitale Formate spiegelten keine analogen Angebote, sondern schafften durch grenzüberschreitende, barrierefreie Ansätze neues Partizipationspotenzial.

In einem abschließenden Roundtable-Gespräch unter der Moderation von Prof. Dr. Habbo Knoch tauschten sich Andreas Ehresmann (Gedenkstätte Lager Sandbostel), Prof. Dr. Detlef Garbe (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte), Dr. Andrea Genest (Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) und Juliane Grossmann (Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit) als Vertreter*innen verschiedener Gedenkstätten über die Erkenntnisse der Tagung aus. Unter den Teilnehmenden herrschte Einigkeit darüber, dass digitale Angebote gegenüber den konkreten Erinnerungsorten als Erweiterung bzw. als eigenständiges Angebot zu betrachten seien. Digitale Formate dienten nicht nur der Erschließung weiterer Zielgruppen, sondern entsprächen einer geänderten Erwartungshaltung und ermöglichten darüber hinaus partizipatorische Ansätze. Die Corona-Pandemie habe erfreulicherweise viele Digitalisierungsprozesse beschleunigt.  Allerdings gäbe es bezüglich der Ressourcen oder der technischen Ausstattung noch Handlungsbedarf, auch im Hinblick auf den erschwerten Ressourcenzugang kleinerer Gedenkstätten. Darüber hinaus diskutierten die Teilnehmer*innen auch Verbesserungsansätze wie Vernetzung, verstärkte Anstrengungen im Bereich OpenSource Data und Anstrengungen im Bereich des Change Management. Mit einem Ausblick auf die weiter steigende Relevanz der Gedenkstättenarbeit im digitalen Raum endete die Tagung.

Bericht: Lennart Onken, Lisa Webner

Wordcloud zu den Schwerpunkten der Tagung