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19.11.2021

Bericht über das 7. Forum „Zukunft der Erinnerung“

Podiumsgespräch im Rahmen des Forums

Vom 10. bis 12. November 2021 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme das siebte Forum „Zukunft der Erinnerung“ statt. Bei der Tagung kamen Angehörige von NS-Verfolgten, Nachkomm*innen von NS-Täter*innen, Gedenkstättenmitarbeiter*innen und erinnerungskulturell Engagierte aus Frankreich, Polen, Dänemark, Belgien, Spanien, Ungarn, den Niederlanden, den USA und Deutschland zusammen, um sich über verschiedene Formen und Praktiken der Aufarbeitung von familiengeschichtlichen Verfolgungserfahrungen und nationalsozialistischen Täterschaften auszutauschen.

Vor Beginn des öffentlichen Teils bot eine Austauschrunde für Angehörige von Verfolgten des Nationalsozialismus die Möglichkeit, sich über den Umgang mit ihrer Familiengeschichte auszutauschen. Durch Expert*innen erhielten sie Tipps und Hilfestellungen, wie die eigene Familiengeschichte in der Öffentlichkeit präsentiert werden kann.

Im ersten Podiumsgespräch tauschten sich Nachkomm*innen von NS-Tätern über ihren Umgang mit Täterschaft in der eigenen Familie aus. Die Kinderbuchautorin Stefanie Taschinski (Hamburg) lässt die Recherche zu ihrem Großvater, ein SS-Mann des Konzentrationslagers Neuengamme, in ihre literarische Arbeit einfließen. Als Lehrerin thematisiert Maria Holzgrewe (Bad Segeberg) die Täterschaft ihres Urgroßvater im Unterricht: Wilhelm Dreimann war als Rapportführer im KZ Neuengamme unter anderem an der Ermordung sowjetischer Häftlinge und der jüdischen „Kinder vom Bullenhuser Damm“ beteiligt. Paula Mittrowann (Hamburg) verarbeitet ihre Recherchen über die Wehrmachtsvergangenheit ihres Großvaters in einer Graphic Novel und fragt in ihrer Auseinandersetzung besonders nach den Handlungsspielräumen, die ein Soldat damals hatte. In der Diskussion wurde deutlich, dass es bei der Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft in der eigenen Familie weniger um konkrete Tatnachweise gehen sollte, sondern vielmehr darum, die vielfältigen Formen des Mitwirkens an Unrechtshandeln in der nationalsozialistischen Gesellschaft zu reflektieren.

Am späten Nachmittag wurde die Ausstellung „Luise. Archäologie eines Unrechts“ im Beisein des Fotografen und Bildjournalisten Stefan Weger (Berlin) eröffnet.

Am zweiten Tag des Forums wechselte der Fokus von den Täter-Nachkomm*innen sukzessive hin zu den Angehörigen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Im ersten Panel waren zunächst beide Seiten vertreten: Yvonne Cossu-Alba (Grasse) und Jean-Michel Gaussot (Paris) als Kinder von Häftlingen des KZ Neuengamme sowie Barbara Brix und Ulrich Gantz (beide Hamburg) als Kinder von Tätern. In dem Format „Mémoire à quatre voix“ (Erinnerung in vier Stimmen), das die Podiumsgäste bereits in Deutschland, Frankreich und weiteren Ländern erprobt haben, tauschten sie sich über ihre Familienhintergründe und Beziehung zu ihren Vätern aus. Die vier Referent*innen, die sich vor Jahren zum ersten Mal in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme begegnet waren, betonten, dass sie ihre unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen als Grundlage für eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft sehen. Ihre geteilten Werte und politischen Überzeugungen wollten sie durch ihre öffentlichen Auftritte an die jungen Generationen weitergeben. In der Diskussion hinterfragten einige Teilnehmer*innen, ob ein solcher Ansatz nicht dem Wunsch nach Versöhnung auf Seiten der Täter*innen entspreche. Problematisiert wurde auch, dass das öffentliche und mediale Interesse zu selten den Nachkomm*innen der Verfolgten, sondern stärker den Nachkomm*innen der Täter*innen, gelte.

Im Anschluss gab es die Gelegenheit, die verschiedenen Verbände ehemaliger KZ-Häftlinge und ihrer Angehörigen kennenzulernen und miteinander ins Gespräch zu kommen: Mit dabei waren die Amicale Belge de Neuengamme, die Amicale International KZ Neuengamme, das Young Committee der Amicale International KZ Neuengamme, die spanische Amical de Neuengamme,  die französische Amicale de Neuengamme et de ses Kommandos, die niederländische Stichting Vriendenkring, die NCPGR Meensel-Kiezegem 44 und die Arbeitsgemeinschaft Neuengamme.

Am Nachmittag berichteten Victoria Evers (Paderborn), Enkelin eines ehemaligen Häftlings des KZ Neuengamme, und Tom Schröder (Hamburg), Urenkel deportierter jüdischer Hamburger*innen, von ihren Erfahrungen. Victoria Evers erzählte, dass sie sich als Kind über die tätowierte Nummer auf dem Arm ihres Großvaters gewundert habe. Doch erst als Jugendliche, nach dem Tod des Großvaters, habe sie durch den Schulunterricht verstanden, dass der Großvater in Auschwitz gewesen sein musste. Tom Schröder erfuhr erst durch die Recherchen seiner Mutter, dass seine Ururgroßmutter Jüdin gewesen war, die in einer Ehe mit einem nichtjüdischen Partner lebte. Diese Ehe verhinderte zwar nicht, dass die Ururgroßmutter in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde, half ihr jedoch, die Schoah zu überleben. Tom Schröder arbeitete die Familiengeschichte im Rahmen eines Seminares an der Universität auf und produzierte einen Kurzfilm, der im Anschluss an das Gespräch gezeigt wurde. Beide Familiengeschichten haben gemeinsam, dass das Schicksal der Verfolgten in den Familien durch Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft in Vergessenheit geriet und verschwiegen wurde. Die Referent*innen betonten die positive Wirkung, die das Aufdecken dieser Familienhintergründe für ihre eigenen Identität und das Verständnis für ihre Verwandten hatte.

Anlässlich der Gründung der spanischen Amical de Neuengamme im Jahr 2020 ging es im letzten Panel um Erinnerungspolitik in Spanien. Balbina Rebollar, Präsidentin der spanischen Amical, berichtete von der Odyssee ihres Vaters Evaristo Rebollar, der auf Seiten der Republik im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Im französischen Exil wurde er von den deutschen Besatzern verhaftet und im KZ Neuengamme inhaftiert, bis er schließlich bei Kriegsende im Auffanglager Wöbbelin befreit wurde. Er kehrte nach Spanien zurück, wo er und seine Familie während der Franco-Diktatur weiteren Repressalien ausgesetzt waren.  Rafael Priego Correas Verwandten waren ebenfalls politische Gegner*innen des Franquismus. Sein Großvater wurde von einer franquistischen Todesschwadron erschossen, sein Großonkel erlitt ein ähnliches Schicksal wie Evaristo Rebollar, überlebte das KZ Neuengamme allerdings nicht. Die Referent*innen erklärten, dass es in Spanien keine ausgeprägte Erinnerungskultur gebe. Die durch Franquismus und Nationalsozialismus Verfolgten würden nicht öffentlich erinnert  und kaum jemand würde ihre Geschichten kennen.

Das Forum „Zukunft der Erinnerung“ endete am Freitag mit einem Druckworkshop am „Ort der Verbundenheit“, der als Erinnerungsort von Angehörigen für Angehörige ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengamme im letzten Jahr im Rahmen des Online-Forums auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eröffnet worden war.

Ausführlicher Artikel (pdf)

Bericht: Alexandre Froidevaux, Juliane Podlaha, Yeliz Irene Yilmaz.

Gespräch mit Vertreter*innen der dritten und vierten Generation ehemals Verfolgter.
Teilnehmerin mit einem selbst gedruckten Plakat
Eine Teilnehmerin plakatiert ein Poster am "Ort der Verbundenheit"
Verbände und Initiativen von Nachkomm*innen ehemaliger KZ-Häftlinge informieren
Balbina Rebollar Batalla, die Präsidentin der spanischen Amical, sprach auf dem Volkstrauertag am Internationalen Mahnmal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme